Ist Japan mitten in der zweiten Corona-Welle?

建物, 屋外, ストリート, テーブル が含まれている画像

自動的に生成された説明
Kabukicho (Bezirk Shinjuku, Tokio) vor Corona-Zeiten

Ist Japan jetzt mitten in der zweiten Corona-Welle?

Heute (31.Juli 2020) wurde in Tokio die bisher größte Anzahl der neuen Corona-Infektionen, nämlich 463 Fälle gezählt. Landesweit beträgt sie 1557. Ob es sich aber um eine zweite Welle handelt oder nicht ist unklar, da die japanische Regierung dieses Wort ungern verwendet. Sie hat gerade erst seit ca. einer Woche die „Go-To-Travel-Kampagne“ gestartet, welche den stark angeschlagenen Tourismus-/Hotel- und Gastronomiebereich durch die Förderung von Inlandsreisen aktivieren soll. Allerdings war die Aktion knapp vor ihrer Einführung bereits verstolpert, da gerade dann die Zahl der Infizierten in Tokyo deutlich nach oben zu steigen begann. So stichelte die Gouverneurin von Tokyo, Yuriko Koike, in Richtung Regierung, ob der Inlandstourismus wirklich trotz dieser steigenden Tendenz gesteigert werden solle, woraufhin die Regierung eilends Reisen nach und aus Tokyo von der Aktion ausgenommen hat. Diese last-minuite-Änderung hatte entsprechende Ungereimtheiten zur Folge, nämlich ob die Stornogebühren der bereits gebuchten Reisen aus und nach Tokio erstattet werden sollten (letztlich wurde beschlossen, dass der Staat diese Kosten übernimmt).

Japan war eines der ersten Länder, welche von diesem neuen Virus betroffen wurden. Die erste Infektion kam aus China, damals hat die ganze Welt die Situation des am Hafen Yokohama ankernden britischen Kreuzfahrtschiffs „Diamond Princess” mit großer Besorgnis beobachtet. Niemand ahnte noch, dass auch Europa eine solch verheerende Infektionsausbreitung erleben würde. Am 24. März wurde schließlich beschlossen, die geplanten olympischen Spiele in Tokio um ein Jahr – nach dem jetzigen Plan – nach hinten zu verschieben. Die Regierung hat dann am 7. April eine Ausnahmezustandserklärung für 7 Präfekturen (später auf weitere 6 Präfekturen erweitert) herausgegeben, wobei diese Erklärung keineswegs rechtlich bindend war. Die japanische Regierung machte darauf aufmerksam, dass es ein Ersuchen an die japanische Bevölkerung sei, wenn nicht absolut dringend und notwendig zu Hause zu bleiben (als Ziel wurde die Reduzierung der Personenkontakte um 80% genannt). Der Premierminister Shintaro Abe erklärte damals in einem Interview mit Soichiro Tawara, dem berühmten Journalisten: „Japans Nachkriegssystem sieht [auch] in einer solchen Situation wie jetzt keine Strafregelung vor; wenn wir sie erschaffen würden, würde man uns als ein repressives Regime bezeichnen.“

Es war mir nicht ganz klar, warum diese Notstandserklärung keinerlei rechtlich bindende Kraft haben kann. Wozu sonst wurde am 12. März das Sondermaßnahmengesetz zur Bekämpfung von neuartigen Influenza-Viren etc. novelliert? Ich dachte damals, dass diese fehlende Verbindlichkeit (man hofft auf ein gutes Benehmen der Bürger) eher darauf zurückzuführen wäre, dass der Staat sonst für entgangene Einkünfte entschädigen müsste, also aus finanzieller Überlegung heraus. Wegen des kürzlich (seit 1. Okt. 2019) erhöhten Verbrauchssteuersatzes von 8% auf 10% wurde schon oft genug das kriselnde japanische Finanzsystem diskutiert. Jedenfalls hat die Regierung trotz dieser weichen Einschränkung auf freiwilliger Basis finanziell Benachteiligten bestimmte Hilfeleistungen zugesprochen.

Corona-Ausgaben der Staaten im Verhältnis zu BIP
Corona-Ausgaben im Verhältnis zu BIP Quelle: BBC (https://www.bbc.com/news/business-52450958)
Anm.: Hier sind zusätzliche Maßnahmen etwa durch Zentralbanken oder Garantie der Kreditvergabe nicht berücksichtigt.

Die Frage, warum die Regierung keine bindenden Maßnahmen treffen kann, wird folgenderweise erläutert*1): Die „jetzige“ japanische Verfassung sieht keinen „Notstandsparagraphen“ vor, welcher den Staat ermöglicht, bei einer Notsituation Maßnahmen zu ergreifen. Viele Staaten haben auf dieser Rechtsgrundlage basierend eine Notstandserklärung erlassen und viel strengere Maßnahmen umgesetzt, welche Rechte der Bürger einschränken, wie z.B. Ausgangssperren, und zwar oft verbunden mit einer Geldstrafe, wenn diese Maßnahmen nicht befolgt werden. Da die japanische Verfassung der Exekutive kein solches Recht einräumt, müssen Notstandsmaßnahmen in einem Gesetz eine Rechtsgrundlage finden. Das Fehlen eines Notstandsparagraphen in der Verfassung ist nämlich auf Japans Vergangenheit zurückzuführen. Um Grundrechte der Bürger zu sichern und eine schnelle Entwicklung hin zu einem totalitären Staat zu vermeiden, ist der Staat in der neuen Nachkriegsverfassung nicht mit der Möglichkeit für Notstandsverordnungen ausgestattet worden. Die Staatsgewalt wurde dagegen föderiert und verstärkt auf die Kommunen verlagert. Aus diesem Grund muss Japan bei jeder neuen Krise des Landes ein neues Gesetz verabschieden*2), was angesichts der üblichen Debatte im Parlament wohl nicht so rasch geht. Dieses Mal griff die Regierung deshalb auf das Sondermaßnahmengesetz zur Bekämpfung von neuen Influenza-Viren etc. zurück, welches 2012 aus der Erfahrung mit Schweinegrippe im Jahr 2009 und Vogelgrippe im Jahr 2012 verabschiedet worden war. Übrigens blieb Japan von der Vogelgrippe verglichen mit anderen Ländern in Asien ziemlich verschont, was wohl auch für die Reaktionsgeschwindigkeit in der Corona-Krise einen gravierenden Unterschied bedeutete. Es muss also bei jeder Krise in Japan erneut genau definiert werden, für welchen Zweck welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, wobei keine Strafmaßnahmen vorgesehen sind.

Trotz dieser superweichen Maßnahmen ging die Zahl der Infektionen in Japan zurück. Gut, es war in der damaligen Situation auch noch gut möglich, den Infektionsweg nachzuvollziehen. So verwunderte sich die Zeitschrift, „Foreign Policy“ vom 15. Mai zu Recht über „Japans mysteriösen Erfolg in der Pandemie“, trotz halbherziger Maßnahmen. Es scheint ja auch nicht logisch erklärbar, dass Japan die Weiterausbreitung genau so erfolgreich wie viele Länder in Europa gestoppt hat, welche viel strengere Maßnahmen mit Einbußen der Rechte ihrer Bürger umgesetzt haben. Japan argumentierte damit, dass die konsequente Rückverfolgung  der Infektionswege und Isolation, die moralische Einstellung und das allgemein hohe Bewusstsein bezüglich der Hygiene der Bürger dazu beigetragen hätten. Ich glaube auch, dass der Großteil der Japaner so gehandelt hat, aber es gibt eben auch viele Ausnahmen.

Wenn man jetzt auf die Statistik der Neuinfektionen blickt, ist es eindeutig, dass die Zahl der Infektionen wieder ansteigt (aber auch die Häufigkeit der Tests ist angestiegen).

Kabukicho (Bezirk Shinjuku, Tokio)
Neue Infektionen in Tokio (vom 1. März bis Ende Juli), rote Linie: Wochendurchschnitt
Quelle: Nippon.com

Nachdem diese Ausnahmezustandserklärung zunächst stufenweise, am 24. Mai dann komplett aufgehoben wurde, wurden nicht viele, aber immer wieder neue Infektionsfälle verzeichnet. Das Nachtleben in Tokio (vor allem vom Stadtteil Shinjuku war hier die Rede) und hier vor allem jüngere Personen sollen für die Neuinfektionen verantwortlich sein. Es geht aber in Japan wie überall auf der Welt gleicherweise darum, die Balance zwischen Gesundheit und Wirtschaft zu tarieren. Viele Menschen können ohne ihre Arbeit nicht überleben, und dies waren – anders als in Deutschland, wo zur gleichen Zeit Schlachthöfe ganze Cluster von Neuinfektionen erzeugten – in Japan vor allem die Mitarbeiter von Nachtclubs bzw. ihre Kunden. Die im Rotlichtmilieu Beschäftigten in Tokio kommen oft aus ländlichen Provinzen und leben in engen, auch manchmal vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten, günstigen Apartments zusammen. Sobald Lokale aber als Infektionsherde namentlich bekannt werden, verlieren sie ihre Kunden. Deshalb war es schwierig, die Infektionskette in diesem Umfeld zurück zu verfolgen und Leute testen zu lassen. Die verhältnismäßig niedrige Zahl der Gestorbenen (kumulative Anzahl: 1.024 bis 31.07.) war bislang vor allem darauf zurückzuführen, dass den Großteil der Infizierten jüngere Menschen stellten. Nun aber nimmt die Zahl der Personen über 40 Jahren und älter auch allmählich zu. Verglichen mit Deutschland (9.141 Tote bis Ende Juli) sind die Zahlen der Infizierten in Japan zwar noch niedrig, jedoch gibt es weit weniger Intensivbetten in japanischen Krankenhäusern als in Deutschland. Laut einer Angabe des japanischen Gesundheitsministeriums vom 6. Mai hat Japan 13,5 Betten pro 100.000 Einwohner, während die Quoten der USA und von Deutschland jeweils 34.7 und 29.2 betragen. Im gebeutelten Gesundheitssystem von Großbritannien beispielsweise liegt sie bei 6,6. Das Ziel der Bekämpfung von Corona muss also sein, eine Überlastung der Krankenhäuser durch Corona-Infizierten zu vermeiden.

Da stellt man sich die Frage, wie man nun diesen Trend entgegenerwirken kann. Was ich und wohl auch manche andere vermissen, ist eine klare politische Führung und Kommunikation. Ab wann muss Japan wirklich schnell und viel radikaler als sonst reagieren?

Klar gibt es regionale und internationale Unterschiede in Anzahl der Betten, Bevölkerungsdichte, Altersverteilung etc. Ursprünglich wurde in Japan nur wenig getestet, weil zum einen nicht ausreichende Testmöglichkeiten (Test-Kits und -Institutionen) zur Verfügung standen, zum anderen, weil auch Tests eine gewisse Fehlerquote haben und nur eine momentane Situation darstellen können. Mittlerweile gibt es schon mehr Daten und Testmöglichkeiten, also könnte eine Soll-Test-Prozedere vorgeschrieben werden, damit das Risiko weiterer Infektion verhindert bzw. minimiert wird. So „fuzzy“ wir Japaner sind, wäre es gut, in diesem Fall eine klare Richtlinie zu bekommen.

31.07.2020

*1) z.B. https://www.spf.org/iina/articles/nakamura_02.html und https://www.spf.org/iina/articles/nakamura_03.html

*2) Gesetze für weitere Notfallsituationen nämlich bei einer Naturkatastrophe, Kernkraftkatastrophe oder einem Waffenangriff sind bereits geschaffen worden.

Referenzen: